Praktikumsbericht

über mein Hauptpraktikum
im Proyecto Ometepe Alemania (POA) in Nicaragua
Zeitraum: Oktober 2003 - Mai 2004
Tabea Köbsch
Dresden
Studiengang: Diplom-Sozialpädagogik
8. Semester


Inhaltsverzeichnis


1 Einleitung

Ich studiere im 8. Semester Sozialpädagogik an der TU Dresden. Seit 2001 bin ich Stipendiatin des Evangelischen Studienwerkes Villigst e.V.. Das Studienwerk ermöglicht seinen StipendiatInnen u.a. die Finanzierung eines Auslandssemesters bzw. eines studienbezogenen Auslandsaufenthaltes. So entstand bei mir erstmalig der Wunsch, mein 6monatiges Hauptpraktikum mit meiner Familie im Ausland zu absolvieren. Mein Ehemann Daniel ist Krankenpfleger. Unsere zwei Kinder Theresa und Aaron sind 7 und 5 Jahre alt. Einen Blick über den deutschen Tellerrand zu wagen, andere Lebensverhältnisse, eine andere Kultur kennenzulernen, eine neue Sprache zu lernen, Studien- und Berufserfahrungen unter anderen Bedingungen anwenden und erproben zu können waren die anfangs ausschlaggebenden Gründe für diesen Wunsch. Wir hatten uns für ein Praktikum in Zentralamerika entschieden, um zu testen, ob ein längerer Auslandseinsatz in der Entwicklungshilfe für unsere Familie in Frage kommen könnte. Ich persönlich wollte herausfinden, ob sich mir als Sozialpädagogin sinnvolle (eventuell unbekannte) Arbeitsbereiche erschließen würden. Politische bzw. entwicklungspolitische Themen interessieren mich sehr, nachdem ich 1997 meine politikwissenschaftliches Studium nach dem ersten Semester wegen der Schwangerschaft aufgeben mußte. Bei der Entscheidung für das Ometepe-Projekt spielte unsere Familiensituation eine große Rolle. Das Projekt auf der Insel bot uns als Familie die Möglichkeit, in einer ruhigen, ungefährlichen Umgebung und gleichzeitig im Kontakt mit den Einheimischen in einer bestehenden Dorfstruktur zu leben. Sowohl ich als auch mein Partner hatten eine Praktikumsmöglichkeit und unsere Kinder konnten unkompliziert in die Projektschule integriert werden.
Mein Praktikumsbericht wird sich wie folgt gliedern: Im ersten Kapitel werde ich einen kleinen Überblick über das Land Nicaragua, seine Geschichte und die gegenwärtige Situation geben, die spezifische Situation der Insel Ometepe darstellen und daran anschließend das Ometepe-Projekt Nicaragua vorstellen. In Kapitel 2 stelle ich meine eigenen Aktivitäten inner- und außerhalb des Projektes vor. Im dritten Kapitel möchte ich versuchen, meine Tätigkeit sowie wichtige Erfahrungen und Schwierigkeiten kritisch zu reflektieren. In Kapitel 4 möchte ich schließlich der Frage nachgehen, welche Ursachen der (hauptsächlich gegen Frauen und Kinder gerichteten) innerfamilialen Gewalt und ihrer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz zugrunde liegen.


2 Darstellung der Region und des Projektes

2.1 Nicaragua

Nicaragua ist mit 130 000 m² das größte Land Zentralamerikas. Von den 5 Mio. Einwohnern Nicaraguas sind 70% Mestizen, 14% Weiße, 10% Schwarze und ca. 4% Indianer. Die Landessprache ist Spanisch.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Nicaraguas ist jünger als 18 Jahre alt. Mit durchschnittlich 4 Kindern pro Frau gehört Nicaragua zu den Ländern mit dem höchsten Bevölkerungswachstum auf der Erde. Ursachen für die geringe Akzeptanz von Familienplanungsmethoden sind neben Glaubensgründen (80% der Bevölkerung ist römisch-katholischen Glaubens) vor allem das niedrige Bildungsniveau sowie der unter der männlichen Bevölkerung Lateinamerikas weitverbreitete Machismo. Nachdem die Sandinisten mit einer Alphabetisierungskampagne die Analphabetenrate drastisch senken konnten, sind inzwischen wieder 30% der Bevölkerung Analphabeten. Es herrscht hohe Arbeitslosigkeit, ca. 50% der Nicaraguaner leben unterhalb der Armutsgrenze. Ein Problem ist die extrem ungleiche Verteilung des Vermögens.
Die Geschichte Nicaraguas ist wie die Geschichte ganz Mittelamerikas entscheidend von der Kolonialherrschaft geprägt. Auch nach der Erlangung der Unabhängigkeit war Nicaragua durch seine strategisch günstige Lage immer wieder Gegenstand von Macht- und Herrschaftsansprüchen anderer Staaten, insbesondere der USA. Dies trifft auch auf die mehr als vierzigjährige Herrschaft der Familie Somoza zu, deren brutale Unterdrückungsmethoden 1960 der Auslöser für die Gründung der Befreiungsbewegung Frente Sandinista de Liberacion Nacional (FSLN) waren. Benannt wurde sie nach Augosto Cesar Sandino, einem Freiheitskämpfer, der in den dreißiger Jahren gegen die nordamerikanische Besatzungsarmee gekämpft hatte. Nach fast 20 Jahren Guerillakampf gegen die Diktatoren errangen die Sandinisten 1979 mit einer Revolution den Sieg. Die Sandinistische Regierung erreichte vor allem eine Verbesserung der sozialen Lage für einen Großteil der Bevölkerung. Beispielhaft dafür stehen die Alphabetisierungskampagne, kostenlose Schulbildung und Gesundheitsversorgung sowie eine gerechtere Verteilung des Landes. Der seit 1980 von den Contras geführte (und u.a. von den USA unterstützte) fast zehn Jahre andauernde Bürgerkrieg sowie die Boykott- und Isolierungspolitik der USA lösten eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise aus. Seit der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 ist Nicaragua offiziell eine Demokratie. Unter der neuen Präsidentin Violeta Chamorro konnte ein Friedensvertrag mit den Contras abeschlossen werden. Der sozialen Erfolge der Sandinisten fielen bald schon Kürzungen im Sozial-, Gesundheits- und Erziehungsbereich zum Opfer. Der derzeitige liberale Präsident Enrique Bolaños unterstützt die Liberalisierung der Märkte Zentralamerikas, leitete aber auch Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung und Konsolidierung der Demokratie ein [A→] [→A]
Korruption ist wie in vielen Drittweltstaaten auch in Nicaragua weitverbreitet, der aktuellste und bekannteste Fall ist der ehemalige Präsident Aleman, der für den Hurrican Mitch bestimmte Hilfsgelder in Milliardenhöhe veruntreut haben.
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Die Wirtschaft Nicaraguas basiert größtenteils auf Landwirtschaft, deren Produkte besonders von den Schwankungen der Weltmarktpreise und extremen Naturphänomenen (Dürre, Hurrikan, Erdbeben) betroffen sind. Neben Kaffee werden überwiegend Bananen, Zuckerrohr und Baumwolle angebaut. Daneben sind außerdem Bergbau, Holz- und Fischindustrie sowie Textil-, Leder- und Metallverarbeitende Betriebe von Bedeutung. Nach wie vor befindet sich Nicaragua in einer ökonomischen und sozialen Krise. Etwa 75% der Bevölkerung leben in Armut, davon 43% in extremer Armut, wobei über 63% der Armen unter 19 Jahren sind. Die offene und verdeckte Arbeitslosigkeit der erwachsenen Bevölkerung liegt mit Unterschieden zwischen Stadt und Land bei 50-70%. Von den Beschäftigten verdienen 85% nicht genug, um damit zu überleben. Oft müssen alle Mitglieder einer Familie, auch die Kinder, zum Einkommen beitragen. 60% der Bevölkerung sind im informellen Sektor tätig, darunter 75% Frauen. Die neoliberale Politik der Regierung seit Beginn der 90er Jahre, die hohe Auslandsverschuldung und die Forderungen der internationalen Finanzorganisationen tragen zur Verschärfung der sozialen Situation bei. [B→] [→B]
Informationen vgl. Höhn, S. 22
Zu den größten ökologischen Problemen Nicaraguas zählen die Abholzung des Regenwaldes, die Nutzung von Feuerholz zum Kochen, die defizitäre Abfallbeseitigung, die prekäre Wohnsituation und die unzureichende Versorgung mit Sanitäranlagen. Im Oktober 1998 hinterließ der Hurrikan „Mitch“ auch in Nicaragua viele Tausende Tote, Schaden in Millionenhöhe und hat das ohnehin arme Land in seiner Entwicklung um einige Jahre zurückgeworfen.

2.2 Die Insel Ometepe

Ometepe ist ein indianischer Name, der „ zwischen zwei Bergen“ bedeutet. Die Insel Ometepe liegt im Süden Nicaraguas im Großen Nicaragua-See, dem größten Süßwassersee Zentralamerikas, der mit einer Fläche von 8264 km² fünfzehnmal so groß ist wie der Bodensee. Die Insel selbst gilt mit einer Fläche von 276 km² und einer Länge von 30 km als die weltweit größte Insel in einem Süßwassersee. Auf der Insel leben ca. 35 000 Einwohner, die größtenteils Nachfahren verschiedener Indianerstämme wie der Chibchas, Tiwanacos, Chorotegas und Nicaraos sind [C→] [→C]
Monge Silva, Manuel Hamilton: La isla de Ometepe. Su historia, mytos y leyendos
. Auf der Insel, die aus zwei Vulkanen - Concepción und Maderas - entstanden ist, herrscht hohe Arbeitslosigkeit von bis zu 90%. Viele Menschen leben vom Ertrag ihres kleinen Feldes oder von Tagelöhnerjobs. An vielen Stellen der Insel gibt es noch immer kein Trinkwasser. Die Menschen trinken das Wasser des Sees, was die Ursache zahlreicher Krankheiten ist. Auch Strom gibt es an einigen Orten der Insel nicht. Sehr schwierig ist die medizinische Versorgung, da viele Wege schlecht und in der Regenzeit unbefahrbar sind. Auch Müll und Abwasser stellen große Probleme für die Insel und deren Bewohner dar, da es keine Entsorgungs- oder Klärsysteme gibt.

2.3 Das Ometepe-Projekt Nicaragua

Das Ometepe-Projekt oder Proyecto Ometepe-Alemania wurde 1993 von dem Wiehler Pfarrerehepaar Höhn nach einer Nicaragua-Reise gegründet. Zunächst unterstützten sie aus privaten Spendengeldern den Bau eines „Zentrums für verschiedene Dienste“, welches von verschiedenen Gruppen genutzt wurde und u.a. als Schule fungiert. Allmählich konnten sie einen inzwischen großen Spenderkreis aufbauen, der das ausschließlich mit nicaraguanischen Mitarbeitern besetzte Projekt auf Ometepe unterstützt. Seit 1995 fahren regelmäßig Delegationen nach Ometepe, um mit den nicaraguanischen Partnern vor Ort den Fortgang des Projektes zu besprechen und sich über die Verwendung der Spendengelder zu informieren. Der Leiter des Projektes in Santo Domingo ist der Agraringenieur Alcides Flores.
Seit 1995 fährt eine Ärztegruppe mit dem Geländewagen des Projektes regelmäßig in die entlegenen Dörfer hinter dem Vulkan Maderas, wo weder eine Straße noch Stromversorgung existiert, um die gesundheitliche Basisversorgung gerade auch der ärmsten Bevölkerung zu sichern. 1998 wurde zusätzlich eine kleine Klinik in Santo Domingo gebaut, in der regelmäßige ärztliche und zahnärztliche Sprechstunden stattfinden. Im Gesundheitsbereich sind ein Allgemeinmediziner, eine Zahnärztin sowie zwei Krankenschwestern tätig. Auch gynäkologische Untersuchungen, Krebsabstriche sowie Geburtsvor- und Nachsorge werden durch den Arzt gewährleistet. Ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitsprogramms sind neben den Sprechstunden und Ambulanzfahrten die regelmäßig stattfindenden „Charlas“ (Informationsveranstaltungen und Vorträge zu Schwangerschaft, Stillen, Verhütung, Hygiene, Ernährung, Kinderkrankheiten u.a. gesundheitsrelevanten Themen), die von den Krankenschwestern und Ärzten abgehalten werden.
Die Schule im „Zentrum für verschiedene Dienste“ arbeitet mit dem Erziehungsministerium zusammen und erweitert sich kontinuierlich. Im Moment unterrichten 4 Lehrerinnen die Klassen 1-5. Viele Kinder, deren Eltern das in Nicaragua übliche Schulgeld von 1 EURO/ Monat nicht aufbringen können, besuchen die Schule kostenlos. Auch Schuluniformen werden an Kinder aus armen oder kinderreichen Familien kostenlos verteilt. Außerdem finanziert das Projekt in 13 Schulen der Insel eine kostenlose Schulspeisung, die reihum durch die Mütter zubereitet wird.
Zudem hat sich mit Hilfe des Projektes im Jahr 2000 eine Kreditgenossenschaft für Kleinbauern gründen können, der inzwischen Bauern aus 22 Dörfern der Insel angehören.
Auch der Bau von festen Häusern und Latrinen wird vom Projekt finanziert. Seit neuestem wird der Haus- und Latrinenbau auf sehr originelle Weise mit dem Recycling von Plastemüll verbunden, indem Plasteflaschen und Dosen als Füllmaterial für Steine und Wände verwendet werden. Damit wird zum Einen ein kleiner Teil des gravierenden Müllproblems auf der Insel gelöst, zum anderen können durch das Mülleinsammeln Arbeitsplätze geschaffen und auf billige Weise Häuser gebaut werden.
Das Ometepe-Projekt ist eine Initiative, die auf deutscher Seite nur durch ehrenamtliche Arbeit aufrechterhalten wird. Für die heutige Größe des Projektes ist dies eine erstaunliche Leistung, die vor allem in den Händen des Ehepaares Höhn liegt. Sie betreiben eine intensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, sammeln Spenden und vernetzen dabei zahlreiche in der Entwicklungszusammenarbeit tätige Initiativen und Institutionen. Auch der Erlös ihrer Bücher (beide sind überdies Autoren) fließt in das Ometepe-Projekt. Mit den Spenden werden monatlich die Mitarbeiter sowie Sach- und Betriebskosten finanziert. Alle Mitarbeiter des Projektes in Nicaragua sind Nicaraguaner. Sie bestimmen in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gemeindeverwaltung, den Kirchen, den zuständigen staatlichen Organisationen sowie den Einheimischen, was auf ihrer Insel am nötigsten gebraucht wird, wo und wie die Spendengelder eingesetzt werden, entscheiden über Personal- und Sachfragen und geben damit dem Projekt „ihre“ speziell nicaraguanische Richtung. Das Ometepe-Projekt kann von daher als ein Modellprojekt der Entwicklungshilfe angesehen werden, da es an der Basis eine wirkliche Zusammenarbeit praktiziert. Nicht selten kann man in Nicaragua Ergebnisse falschverstandener oder schlicht verfehlter Entwicklungshilfe bewundern, wo immense Summen in fragwürdige Projekte gesteckt wurden und werden, ohne sich um lokale Gegebenheiten, Sensibilitäten oder die Vorstellungen Einheimischer zu kümmern. Oftmals werden damit die Abhängigkeiten noch verstärkt, anstatt sie abzubauen. Aktiv an der eigenen Zukunft arbeiten, Ideen und Wünsche formulieren, Wege und Lösungen für bestehende Probleme suchen, gezielt Unterstützung einwerben - das wird in kleinstem Rahmen und mühevoller Zusammenarbeit im Ometepe-Projekt praktiziert.


3 Darstellung der eigenen Tätigkeit

3.1 Arbeit im Rahmen des Projektes

Da das Ometepe-Projekt kein wirklich „sozialpädagogisches“ Projekt ist, waren meine Aufgaben vorher nicht klar definiert worden. Der Bildungsbereich des Projektes umfaßte die Grund- und Vorschule, die einer Mitarbeit meinerseits offen gegenüberstanden. Darüber hinaus suchte ich nach anderen Arbeitsmöglichkeiten. Ich besuchte u.a. zwei Kinderheime, eine Psychologin und eine weitere Schule. Aus unterschiedlichen Gründen war eine Mitarbeit dort nicht möglich bzw. sinnvoll.

Ferienangebote für Kinder

Zum Ferienbeginn Ende November begann ich dann mit regelmäßigen Angeboten für Kinder von 5-15 Jahren in den Vormittagsstunden. Zuvor hatte ich mich in einer Elternversammlung der Schule vorgestellt und von den Eltern (bzw. Müttern!) die Zustimmung zu den geplanten Aktivitäten erhalten. Das war wichtig, da sie ohne dieses Vertrauen ihre Kinder nicht zu mir geschickt hätten. Die Angebote fanden in der Schule „La Esperanza“ statt, wozu ich einen eigenen Schlüssel bekam. Hauptsächlich handelte es sich um Angebote wie Malen, Basteln, Spielen (Tischspiele sowie Bewegungsspiele) und Sport, gelegentlich machten wir auch kleinere Wanderungen und Naturbeobachtungen. Pädagogische Aspekte dabei waren u.a. die Förderung von Kreativität und motorischen Fähigkeiten, Eigeninitiative, von sozialem Denken und Handeln (Spielpädagogische Aspekte wie das Erlernen und Einhalten von Spielregeln, Gewaltverzicht u.a.) und Selbst- sowie Gemeinschaftsbewußtsein. Auch naturkundliche und ökologische Themen wie der Umgang mit Wasser, Pflanzen, Tieren und Müll wurden manchmal auf den Wanderungen angesprochen. Musikalische Aktivitäten gestalteten sich schwierig, da ich kaum nicaraguanische Kinderlieder kannte bzw. kennenlernte (es gibt offensichtlich nur wenige allgemein bekannte Kinderlieder und erst recht kein schriftlich fixiertes Liedgut) und es an Instrumenten fehlte. Gleichzeitig mit den Angeboten am Vormittag begann ich an zwei Nachmittagen pro Woche einen Englischkurs für Kinder ab 8 Jahre. Beide Aktivitäten führte ich bis Ende Januar fort.
Die Beschäftigung mit und Förderung von Kindern in ungezwungene Atmosphäre außerhalb der Schule ist in Nicaragua nicht üblich, quasi ein Luxus, den sich nur reichere Familien in den Städten leisten können. Angebote in dieser Richtung findet man dementsprechend selten. Dies hat auch damit zutun, daß Kinder in vielen Entwicklungsländern nicht den eigenständige Lebens- und Entwicklungs(zeit)raum haben, der Kindern in der westlichen Welt - als Folge einer jahrhundertelangen pädagogischen Bildungs- und Forschungstradition - ganz ungefragt zusteht. So müssen viele Kinder in Nicaragua schon frühzeitig zum Familieneinkommen beitragen, können die Schule nicht besuchen und sind damit von weiterführenden Bildungswegen ausgeschlossen. Das nicaraguanische Schulsystem ist sehr stark von der Autorität des Lehrers/ der Lehrerin geprägt, unterrichtet wird ausschließlich im Frontalunterricht. Von den Schülern wird Disziplin und Unterordnung verlangt. Der Schulalltag wird vor allem durch Vorträge des Lehrers, Abschreiben und Auswendiglernen bestimmt, wobei die Methodenarmut u.a. durch fehlende Materialien bzw. die miserable Ausstattung der Schulen begründet ist.

Englischkurs für Jugendliche und Erwachsene

Anfang Dezember startete ich auch einen Englischkurs für Erwachsene (2x wöchentlich), zu welchem aber hauptsächlich Jugendliche kamen. Die Teilnehmerzahl stieg von anfangs 3 Teilnehmern bis auf 15 Teilnehmer im Januar. Das Bildungsniveau der Teilnehmer war bis auf Ausnahmen eher niedrig, was sich u.a. in der Unfähigkeit zu eigenständigem Arbeiten und Lernen und der Anwendung des Gelernten zeigte (hier spielt sicher auch das nicaraguanische Schulsystem eine Rolle). Trotzallem versuchte ich immer wieder, auch interaktive Lernmethoden (Gruppenarbeiten, Dialoge etc.) auf niedrigem Niveau einzusetzen, um auch Lust auf und Spaß am Lernen zu vermitteln. Durch den Schulbeginn mußten wir die Uhrzeit von 5 Uhr auf 6 Uhr abends verlegen, weshalb vor allem die jungen Frauen nicht mehr kamen, was ich persönlich als großen Verlust empfand. Gerade junge Frauen haben aufgrund ihrer häuslichen Aufgaben wenig Gelegenheit, Bildungsangebote wahrzunehmen. Es gab nur wenige Teilnehmer, die wirklich regelmäßig die Kurse besuchten, was meiner Meinung nach neben anderen Verpflichtungen auch eine Frage der Einstellung war. Trotz allem waren jede Stunde ca. 8-10 Personen anwesend. Im Mai zu Beginn der Regenzeit wurde es durch die Regenfälle sowie Stromausfälle in den Abendstunden zunehmend unmöglich, den Kurs abzuhalten. Dies ist neben der unzuverlässigen Teilnahme ein Grund, weshalb von einer Weiterführung des Kurses durch eine nicaraguanische Englischlehrerin bisher abgesehen wurde.

Englischunterricht in der Grundschule

Anfang Februar fing das nicaruguanische Schuljahr wieder an. Auf Wunsch aller Mitarbeiter im Bildungsbereich unterrichtete ich für 4 Monate in den Klassen 1-5 Englisch. Die Materialien bzw. den Unterrichtsplan erstellte ich selbst, was oft viel Zeit kostete. Englischbücher gab es für die Grundschule nicht, an meinem Laptop erstellte Materialien konnte ich an dem einzigen im Projekt existierenden Computer (bzw. Drucker) ausdrucken, ein Kopierer befand sich allerdings erst eine halbe Stunde Busfahrt entfernt in Altagracia, der „Hauptstadt“ der Insel. Bis Anfang März hatte ich mit Anna, einer jungen Amerikanerin, welche zwei Monate in Santo Domingo verbrachte um das Projekt kennenzulernen, eine große Hilfe. Wir haben gemeinsam die Stunden vorbereitet und sie auch gemeinsam gehalten. Die letzten drei Monate habe ich dann allein unterrichtet. Das Schulklima hat mir persönlich sehr gefallen, mit den Lehrerinnen habe ich mich gut verstanden. Außerdem war es sehr schön für mich, so engen Kontakt zu den Kindern zu haben, die ich in ihrer einfachen Freundlichkeit als sehr angenehm empfunden habe. Viele Erfahrungen in der Schule und mit Lehrerinnen und Kindern - positive wie negative - haben mich sehr zum Nachdenken angeregt. Ich habe viele pädagogische Errungenschaften unserer westlichen Welt erst richtig zu schätzen gelernt, andererseits war ich von der einfachen Art und Weise des Lehrens und Lernens auch irgendwie fasziniert. Wie sind wir doch schon an Computer, Kopierer (sowie eine maßlose Papierverschwendung auch in Schulen und Unis!), Beamer u.a. gewöhnt, ja Sklaven der Technik, ohne die es scheinbar nicht mehr zu gehen scheint. Ich habe große Hochachtung vor dem Einfallsreichtum der Lehrerinnen gehabt, die selbst aus Müll Unterrichtsmaterial fertigten. Auch die Frage des Sinns und Nutzens von Schuluniformen stellte sich mir in Nicaragua erstmals, wo jedes Kind in Uniform (blauer Rock/Hose, weißes Hemd) in die Schule zu kommen hatte (oder manchmal eben nicht kam, weil kein Geld für die Uniform da war). Dafür gab es zumindest in der Schule keinen aus „Markenzwang“ entstehenden sozialen Druck in der Schule.

Übersetzungen

Während meines Praktikums konnte ich auch mit mancher Übersetzung helfen. So übersetzte ich deutsche Briefe ins Spanische, die Jahresberichte der nicarganischen Projektmitglieder ins Deutsche und konnte auch in mehreren Gelegenheiten als Dolmetscherin fungieren, u.a. bei einem offiziellen Besuch von zwei Abeordneten aus der Partnerstadt Herne.

Weltaidstag

Aids ist inzwischen auch in Nicaragua ein ernstzunehmendes Problem, wenn auch noch weit entfernt von den verheerenden Ausmaßen, die die Krankheit in Afrika angenommen hat. Begünstigt wird die Ausbreitung von Aids vor allem durch zwei Faktoren: die zunehmende Arbeitsmigration vornehmlich männlicher Nicaraguaner in angrenzende Staaten (v.a. Costa Rica) mit zunehmender Prostitution in den betreffenden Staaten sowie die allgemein übliche Promiskuität der nicaraguanischen Männer, durch das kulturell bestimmte Geschlechterverhältnis und den Machismo gerechtfertigt. Da es bei der Bevölkerung noch kein Bewußtsein für die Problematik gibt, bemühen sich viele im Gesundheitsbereich aktive staatliche und nichtstaatliche Organisationen um Information und Aufklärung und nutzen dazu auch populäre Mittel wie Musikveranstaltungen, Wettbewerbe und Paraden.
Am 28. November 2003 fand anläßlich des Weltaidstages eine Wagenparade in dem Dorf Los Angeles statt. Organisiert von der „Fundacion Entre Volcanes“, waren Ortschaften, Gruppen und Organisationen dazu aufgerufen worden, sich mit einem geschmückten Pferdewagen und einer thematisch passenden Losung an dieser Parade zu beteiligen. Im Anschluß daran war ein kleiner Wettbewerb mit Fragen zum Thema Aids geplant. Gemeinsam mit dem Gesundheits-Team suchte ich nach zwei Losungen für die Spruchbänder („Liebe ist... ein Condom zu benutzen“ und „Schützen wir unsere Insel, indem wir Condome benutzen“) und übernahm deren Gestaltung gemeinsam mit einigen Kindern. Einen Tag vor der Parade hielt ich ein „Seminar“ für Kinder und Jugendliche aus Santo Domingo und Umgebung zum Thema Aids, Übertragungs- und Präventionsmöglichkeiten ab. Durch die kurzfristige Aktion (Komunikationsprobleme innerhalb des Projektes) konnten ich nur die Kinder und Jugendlichen erreichen, die ich bereits kannte. Durch eine bessere Information der Projektmitglieder (auch meiner Person) wären sehr viel mehr Jugendliche erreicht worden. Die Informationsstunde lief sehr gut, die Kinder waren interessiert und kommunikativ. Es war gleichzeitig die Vorbereitung auf den Wettbewerb, wo je ein Jugendlicher aus jedem Ort/ jeder Institution auf eine Frage antworten sollte. Am Tag der Parade half ich bei der Dekoration des Wagens. Unser mit Blumen geschmückter Wagen mit Mädchen in Folklorekleidern war eine Augenweide. Davor und daneben liefen die Kinder mit den Spruchbändern. Auf dem Sportplatz in Los Angeles fand dann der Wettbewerb statt. Eine Jury beurteilte die Wagen, Spruchbänder und schließlich die Antwort der jeweiligen Kandidaten. Unser Kandidat war mit Abstand der Jüngste und schlug sich tapfer. Der 1. Preis war eine große Überraschung für uns alle, für das Preisgeld luden wir alle Kinder in Santo Domingo zu einem gemeinsamen Essen ein.

Folkloretanz zum Muttertag

Nachdem ich in einigen Gesprächen mit der Koordinatorin für Bildung gehört hatte, daß ihr großer Traum, eine Volkstanzgruppe an der Schule, bisher an der Beschaffung der Kleider gescheitert war, entschieden wir (mein Partner und ich) uns, ihr eine Direktspende für den Kauf von Folklore-Kostümen zu geben, wovon insgesamt 12 Kostüme gekauft werden konnten. Die erste Aufführung sollte zum Muttertag am 30. Mai stattfinden. Ein junger Mann aus einem Volkstanzensemble übernahm die Proben, denen ich anfangs nur aus Interesse beiwohnte. Er zeigte den Kindern die Tanzschritte und die Choreografie, ich half beim Umziehen und mit der Musik und lernte so viel über den nicaraguanischen Volkstanz. Da meine Tochter Theresa mittanzte, mußte ich ihr manchmal auch etwas helfen. Nach und nach konnte ich auch selbst Ideen zur Durchführung der Proben einbringen. Der Tanzlehrer war selbst noch sehr jung und manchmal fehlte ihm etwas die Geduld mit den Kindern. Er zeigte ihnen immer neue Elemente, anstatt zunächst eine Variante zu festigen und den Kindern damit die nötige Sicherheit zu vermitteln. In der letzten Woche übernahm ich selbst einige Proben. Der Auftritt zum Muttertag lief gut und die Kinder waren zu Recht ungeheuer stolz auf ihre Leistung.

3.2 Arbeit außerhalb des Projektes

Frauenbildung

Ab Dezember nahm ich an den monatlichen Frauenbildungskursen der „Fundacion Entre Volcanes“ in San Pedro und Balgüe teil, welche u.a. Themen wie Geschlecht, Geschlechterrollen, Gewalt, Sexualität, Selbstwertgefühl und Frauenarbeit behandelten. Diese Workshops werden von zwei engagierten Frauen geleitet, die neben ihrer Arbeit auch im Frauennetzwerk „Red de las Mujeres“ akiv sind, ansonsten aber keine direkte Qualifikation (oder Berufsabschluß in unserem Verständnis) besitzen. Dennoch leiteten sie die Workshops mit sehr viel Engagement, methodischer Vielfalt und Einfühlungsvermögen. In den Workshops wurde Wissen aus der Psychologie, Soziologie, Pädagogik sowie rechtliche Zusammenhänge (z.B. bei Gewalt gegen Frauen) auf sehr vereinfachte und anschauliche Weise vermittelt, so daß es für die Frauen verständlich war. Zu jedem Thema wurde auch ein persönlicher Bezug hergestellt, indem die Frauen ihre Erfahrungen, ihre Sicht auf die Dinge einbringen konnten und viel Zeit für Gespräch und Diskussionen zur Verfügung stand. In den Workshops herrschte meist eine sehr vertraute, fröhliche Atmosphäre, die Frauen fühlten sich gegenseitig sehr verbunden, waren aber trotzdem immer offen für neue Teilnehmerinnen. Die Workshops waren für die Frauen, die meist in den Frauengruppen aktiv waren, eine Chance, zu lernen, sich auszutauschen, sich als Persönlichkeit weiterzuentwickeln und Kraft für den harten Alltag zu schöpfen. Ich half bei der Organisation und Durchführung der Workshops, konnte mich mit inhaltlichen und methodischen Ideen einbringen und half bei der Durchführung und Auswertung einer Umfrage unter den Frauen mit. Ich betrachte es als ein großes Geschenk für mich, daß ich an diesen Kursen teilnehmen durfte und dadurch einen viel tieferen Einblick in das Leben, Denken und Fühlen der nicaraguanischen Frauen bekommen konnte. Zum anderen waren es auch methodisch interessante Seminare der Erwachsenen- bzw. Frauenbildung, die mir viele meiner Studieninhalte nochmals in ganz neuem Licht erscheinen ließen.

3.3 Eigene Projekte

Weihnachtsfeier für Kinder

Zu Weihnachten organisierte ich gemeinsam mit zwei Projektmitgliedern eine Weihnachtsfeier für die Kinder, welche regelmäßig an meinen Ferienangeboten teilnahmen. Dazu luden wir auch die Kinder der Organisation „SI A LA VIDA“(ehemalige Straßenkinder aus Managua, die in einem Haus in Altagracia gemeinsam leben, arbeiten und zur Schule gehen) ein, die über Weihnachten im Heim zurückgeblieben waren. Ich bereitete die Feier gemeinsam mit den Kindern vor, wir haben Plätzchen gebacken und Reispudding gekocht. Im Vorfeld hatten wir in Geschäften nach Lebensmittelspenden für ein Weihnachtsessen nachgefragt und genug zusammenbekommen. Ich bereitete Spiele sowie für jedes Kind eine kleine Weihnachtsüberraschung vor. Es kamen insgesamt ca. 35 Kinder.

Theatergastspiel

Als ich Mitte Februar ein Wochenende in Granada verbrachte, lernte ich bei einer Jubiläumsfeier der nicaraguanischen Frauenorganisation IXCHEN eine Jugendtheatergruppe der „Casa de los tres mundos“ kennen, die ein Theaterstück über Gewalt zwischen Mann und Frau aufführten. Der Regisseur lud mich für den nächsten Tag zu einer Probe ein und ich konnte miterleben, wie professionell diese Jugendlichen von ca. 18 Jahren die Aufführung reflektierten und auswerteten.
Nicaragua ist wie die meisten Länder der sogenannten Dritten Welt von einer hohen Rate an innerfamiliärer Gewalt gekennzeichnet. Es gibt viele Initiativen, die Opfern familiärer Gewalt (v.a. Frauen und Kindern) Hilfe und Unterstützung anbieten. Doch Unkenntnis der Gesetzeslage, starke familiäre und ökonomische Abhängigkeiten, Schamgefühle u.a. sind ebenso weit verbreitet. Der Teufelskreis von Armut und Gewalt ist für einen Großteil der nicaraguanischen Frauen noch harte Realität und verhindert oft, daß Frauen sich gegen erlittenes Unrecht zur Wehr setzen.
Zurück auf der Insel sprach ich mit dem Koordinator des Projektes über die Möglichkeit, die Gruppe auf die Insel einzuladen. Er reagierte positiv und versprach mir seine Unterstützung. Die Theatergruppe selbst war sehr interessiert an einem Gastspiel auf Ometepe, da sie bisher selten die Gelegenheit gehabt hatten, sich einem Publikum einer ländlichen Gegend vorzustellen, wo die Thematik weitaus brisanter ist als in den gebildeten Bevölkerungsschichten der Städte. Sie machten den Vorschlag, zwei Vorstellungen mit einem Theaterworkshop für Jugendliche zu verbinden, falls Interesse bestehen sollte. Ich kümmerte mich vor allem um die Finanzierung, Logistik, Werbung und die Betreuung der Gruppe. In die Kosten für Transport, Verpflegung und Unterkunft teilten sich die Gemeinde Altagracia und POA, einen Teil der Kosten für die Vorstellungen konnte ich durch die Einwerbung von Spenden im Vorfeld und während der Veranstaltung sammeln, den Rest steuerten wir selbst bei. Mit dem Computer gestaltete ich Handzettel und kleine Plakate, kopierte sie und verteilte sie in Balgüe und Altagracia an bekannte Privatpersonen sowie in Geschäften, Schulen und Straßen. Um jugendliche Interessenten für den Theaterworkshop zu finden, nahm ich Kontakt zu Schulen und den Jugendklubs des Gesundheitszentrums sowie der „Fundacion Entre Vulcanes“ auf. Letztere unterstützte uns außerdem, indem sie den Transport interessierter Frauen (und Männer) aus den Dörfern San Pedro und La Palma zur Veranstaltung nach Balgüe mit ihrem Lastwagen übernahmen. In Balgüe fand die Theateraufführung um 16 Uhr auf dem öffentlichen Sportplatz unter freiem Himmel statt und war sehr gut besucht. Das Vorprogramm bestritt ein Hobby-Schauspieler, indem er heitere Geschichten aus dem „nicaraguanischen Dorf“ erzählte. Dieses „warming up“ war nötig, um das zumeist sehr einfache dörfliche Publikum aufnahmebereit zu machen für den „harten Stoff“ des anschließenden Theaterstücks. Die Menschen waren sehr beeindruckt, im Anschluß redeten die Leiterin einer Frauengruppe und der Bürgermeister der Insel und sprachen über die alltägliche Gewalt in Ehen und Familien, die meist von Männern ausgeht und oft auch mit Alkohol zutun hat. Die zweite Aufführung fand in der Bibliothek von Altagracia statt. Während das Publikum in Balgüe aus Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern vom Dorf bestand, gehörte das Publikum in Altagracia zum großen Teil der Mittelschicht an: LehrerInnen, Schuldirektoren, Geschäftsinhaber. Die Bibliothek war mit ca. 70 Besuchern überfüllt und im Anschluß an das Theaterstück entwickelte sich eine rege Diskussion über die Thematik unter den Besuchern, was auch die Schauspieler sehr beeindruckt hat, wie sie uns später erzählten. Insgesamt kann man sagen, daß beide Aufführungen ein großer Erfolg waren und daß von Lehrern und Schuldirektoren reges Interesse bezeugt wurde, das Stück mit dieser wichtigen Thematik auch in Schulen aufzuführen. Die Gruppe ihrerseits hatte an einem solchen Projekt ebenfalls großes Interesse. Der Theaterworkshop am nächsten Vormittag wurde von ca. 15 Jugendlichen der Insel besucht. Einige von ihnen hatten sich selbst schon mit Theaterspielen versucht bzw. waren in Jugendgruppen integriert. Es wurden Spiele zum Kennenlernen, zum Gestalten einer vertrauten Atmosphäre, Wahrnehmungsspiele, Gruppenfindungsspiele u.a. gemacht, die jeweils verschiedene pädagogische Zwecke verfolgten: Förderung von Vertrauen, Kreativität, Gedächtnis, Phantasie, Zusammengehörigkeitsgefühl u.a. Ich war über die kompetente Leitung des Workshops von Seiten der Schauspieler sehr überrascht, es war in kaum zwei Stunden eine sehr vertraute und entspannte Atmosphäre zwischen vorher unbekannten Menschen entstanden. Auch die jugendlichen Teilnehmer äußerten sich sehr zufrieden und motiviert. Die Theatergruppe ist an einer weiteren Zusammenarbeit mit dem Projekt interessiert. Für mich persönlich war es interessant, etwas über die Probleme von Künstlern und die Situation des Theaters in Nicaragua zu erfahren. Der Leiter der Gruppe, Pepe Prego, hat schon langjährige Theatererfahrung. So hat er 1979 mit Campesinos im Norden des Landes Theatergruppen gegründet, hat selbst in Gruppen mitgespielt und war in den 80er Jahren Beauftragter für Theater im Kultusministerium gewesen. Die Gespräche mit den sehr reflektierten, interessierten jugendlichen Schauspielern (in der Mehrzahl Studenten) haben uns nochmals ein anderes Nicaraguabild vermitteln können.


4 Kritische Reflexion über die eigene Arbeit

Bevor ich zur kritischen Reflexion meiner eigenen Tätigkeit komme, möchte ich zunächst kurz das Verhältnis von Sozialarbeit und Entwicklungshilfe beleuchten. Das Ometepe-Projekt ist ein Projekt der Entwicklungshilfe bzw. Entwicklungszusammenarbeit (beides trifft zu, da es zwar gleichberechtigte Projektgruppen in Deutschland und Nicaragua gibt, die Finanzmittel jedoch ausschließlich aus Deutschland kommen), welches sich um die Basisversorgung der Menschen auf Ometepe kümmert. Dazu gehört vor allem die Gewährleistung kostenloser Gesundheitsversorgung und Schulbildung, der Bau fester Häuser und Latrinen und die Anschubfinanzierung einer Kreditgenossenschaft für Kleinbauern. Das ursprüngliche Ziel eines selbständigen und finanziell sich selbst tragenden Projektes hat sich mittlerweile als wenig realistisch erwiesen. Projekte der Basisleistungen wie Gesundheit und Bildung sind und werden nicht nachhaltig sein. Dies würde bedeuten, den Armen die Aufrechterhaltung der Leistungen aufzubürden. Andererseits ersetzen NGOs mit ihrer Arbeit für die Bevölkerung diejenigen, die - wie der Staat - eigentlich für die Lösung der Probleme verantwortlich sein sollten. Dies kann auf Dauer ebensowenig Sinn und Zweck von Entwicklungszusammenarbeit sein. Sozialarbeit hat mit dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ einen emanzipatorischen und individuenzentrierten Ansatz, Menschen in ihrer jeweiligen Lebens- bzw. Krisensituation zu begleiten und zu unterstützen - im Rahmen der vorhandenen (institutionellen) Strukturen und Möglichkeiten. In einem Land, in welchem die Basisversorgung vieler Menschen nicht gewährleistet ist und Armut und Benachteiligung viel größere Teile der Bevölkerung betrifft, muß auch Soziale Arbeit anders verortet und legitimiert werden. Den Menschen geht es um die Sicherung ihrer Existenz, doch wie und was kann Sozialarbeit tun, wenn es weder finanzielle Mittel noch zu vermittelnde Institutionen, geschweigedenn rechtliche Ansprüche gibt?
Für mich als Freiwillige war die Situation in verschiedener Hinsicht schwierig. Als Freiwillige stand ich außerhalb der hierarchisch-patriarschalischen Projektstrukturen, was sowohl für die Projektmitarbeiter als auch für mich zu Unsicherheiten im Umgang miteinander führte. Das Projekt hat zwar einen Bereich „Bildung“, welcher aber im Moment nur die Grund- und Vorschule umfaßt. Eine Mitarbeit in der Schule war möglich und auch vorgesehen, hatte allerdings wenig mit meinem Studium zu tun. Aus diesem Grund war ich gezwungen??, mir innerhalb bzw. außerhalb des Projektes „sozialpädagogische“ Aufgaben zu suchen. Hier - und letztlich auch in meinem Unterricht in der Schule - war ich vollkommen auf mich gestellt. Angefangen über Ideensammlung, Planung und Vorbereitung bis zur Durchführung machte ich alles selbst. Der Vorteil war, daß ich auf diese Weise sehr viel gelernt habe. Ich mußte auf Menschen zugehen, Kontakte knüpfen, meine Ideen vorstellen, Aktivitäten allein vorbereiten und durchführen und lernte bei alledem auch mich selbst besser kennen und einzuschätzen. In der Arbeit mit den Kindern habe ich versucht, freie und interaktive Lehr- und Lernmethoden einzusetzen - mit unterschiedlichem Erfolg. Die Kinder waren einfach an den autoritären Frontalunterricht gewöhnt. Manchmal fehlte mir da ein Ansprechpartner, für fachliche Anleitung und Betreuung und vor allem für die Reflexion kulturell bedingter Verständigungsprobleme. Diese gab es im Laufe meines Praktikums mehr als genug. Obwohl ich mich schon im Vorfeld darauf vorbereitet hatte und versucht habe, sehr vorsichtig mit meiner westlich-europäisch-deutschen Kultur und Gedankenwelt umzugehen, bin ich doch an Verständnisgrenzen gestoßen. Der nicaraguanische Teil des Projektes mit seiner patriarchalischen Organisationsstruktur hat mir besonders zu schaffen gemacht. Der Projektleiter verkörperte trotz seines bewundernswerten sozialen Engagements und seines ausgesprochenen Gerechtigkeitssinnes den typischen nicaraguanisch-mittelständigen Mann: als Patriarch behielt er sich alle Entscheidungen vor, wachte streng über sämtliche Finanzen (was dazu führte, daß die Lehrerinnen wegen jedem Stift fragen mußten) und gerade weibliche Projektmitarbeiterinnen mieden jede ernste Auseinandersetzung ängstlich. Die Unfähigkeit aller Mitarbeiter, Konflikte und strittige Themen offen anzusprechen und auszudiskutieren, gab mir sehr zu denken. Denn interne Spannungen und Kommunikationsprobleme tangierten und beeinträchtigten nicht selten auch die Qualität der Arbeit. Oft hatten darunter Kinder und Patienten zu leiden. Trotzallem mußte ich einsehen, daß viele solcher Verhaltensweisen nicht nur im Projekt, sondern in ganz Nicaragua üblich und „normal“ waren. Aufgrund meiner Unkenntnis dieser Sitten und „ungeschriebenen Gesetze“ sowie mancher sprachlicher Verständigungsprobleme ergaben sich manchmal frustrierende Mißverständnisse. Frustriert war meistens ich, die sich über Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit und Kommunikationsprobleme aufregte (manchmal, wenn es auf Kosten anderer ging, wie ich finde, zu Recht), anstatt ganz gelassen einen Kaffee zu trinken. Von der Lebenseinstellung der Nicaraguaner konnte ich viel lernen: Ruhe, Gelassenheit, Zufriedenheit (trotz aller Not) und Freundlichkeit, und immer überall sehr viel Humor! Letztlich habe ich mich in meiner Praktikumszeit mehr denn je zuvor auch mit mir und meiner Herkunft und Kultur beschäftigt. Die Reise in die Fremde war in Wirklichkeit auch eine Reise zu mir selbst. Ich habe viele meiner Gedanken, Worte und Taten vor dem Hintergrund meiner kulturellen und nationalen Identität reflektiert bzw. reflektiert bekommen („Ihr Deutschen, ihr denkt immer, ihr müßt arbeiten!“). Viele vormals wichtige Dinge haben sich relativiert in dieser Zeit. Anderes ist für mich erst durch diese Zeit wichtig geworden. Und auch man selbst trägt mit dazu bei, daß im gegenseitigen kulturellen Austausch sich Wissen und Einstellungen gegenüber „den Deutschen“ sich erweitern oder verändern. Allein durch das Leben unserer Paarbeziehung und den Umgang mit unseren Kindern haben wir einen „Eindruck“ hinterlassen.


5 Theoretische Aufarbeitung: Geschlechterrollen und Akzeptanz intrafamiliärer Gewalt in Nicaragua

5.1 Theoretische Erklärungsansätze von (innerfamiliärer) Gewalt

5.1.1 Definition und Ausmaß familiärer Gewalt

Die in der Amerikanischen Family-Violence-Forschung weit verbreitete Gewaltdefinition von Suzanne K. Steinmetz (1987) definiert Gewalt als „an act of carried out with the intention of, or an act perceived as having the intention of physically hurting another person. This physical hurt can range from a slap to murder“ [D→] [→D]
vgl. Lenz: Soziologie der Zweierbeziehung S. 132
. Obwohl dieser Begriff neben der objektiv sichtbaren Gewalt auch die Opferperspektive, d.h. die Wahrnehmung einer Handlung als mit einer Verletzungsabsicht verbunden, einbezieht, bleibt der Gewaltbegriff doch auf physische Gewalt beschränkt. [E→] [→E]
vgl. Lenz, S. 133
Betrachtet man jedoch typische Gewalthandlungen, die in der Familie oder dem familialen Nahraum stattfinden, so wird klar, daß es sich bei einem Großteil der als verletzend empfundenen Handlungen um psychische, seelische (d.h. verbale) Gewalt handelt. Aus diesem Grund möchte ich eine weitere Gewaltdefinition anschließen, die beide Formen beinhaltet und den Fokus auf familiale „häusliche“ Gewalt richtet:
„Häusliche Gewalt ist Gewaltanwendung in physischer und psychischer Form zwischen Menschen, die in engen persönlichen Beziehungen zueinander stehen. Sie wird überwiegend von Männern gegenüber Frauen und Kindern ausgeübt und findet vorwiegend im vermeintlichen Schutzraum der eigenen vier Wände statt.“ [F→] [→F]
Sächsisches Staatsministerium für Soziales: Häusliche Gewalt ist keine Privatsache! Informationen über Hilfsangebote und rechtliche Möglichkeiten. Dresden 2004
Zu den Ausmaßen innerfamiliärer Gewalt gibt es bisher wenige repräsentative Untersuchungen. Aus einigen vor allem US-amerikanischen Studien geht hervor, daß durchschnittlich jedes 6. Paar (Strauß 1979) bzw. jeder 5. College-Student (Johnson/ Ferraro 1988) über Gewalterfahrungen in der Zweierbeziehung berichtete. [G→] [→G]
vgl. Lenz S. 133f.
Ohne dies weiterverfolgen zu wollen, stellen die (allerdings zeitlich weit zurückliegenden) Ergebnisse doch heraus, daß Gewalt in Familien und Zweierbeziehungen auch in westlichen Gesellschaften ein häufiges Phänomen zu sein scheint. Dies belegen auch Erfahrungen in Frauenhäusern und Frauenzufluchtstätten.

5.1.2 Ursachen und Bedingungen von Gewalt in Familie und Zweierbeziehung

Zu fragen ist nun nach Ursachen und Erklärungsmustern für Gewalt im familialen Nahraum. Dabei ist zu berücksichtigen, daß unter familiale oder „häusliche Gewalt“ sowohl Gewalt gegen Ehe- und Lebenspartner als auch Gewalt gegen Kinder gerechnet werden, die, obwohl sie häufig ursächlich zusammenhängen (sei es als Anlaß, Folge oder Begleiterscheinung von Gewalt in Zweierbeziehung) und damit einen Problemkomplex bilden, doch zunächst voneinander zu unterscheiden sind. Da es mir in meiner Arbeit vordergründig um Gewalt im Geschlechterverhältnis geht, wird die gegen Kinder gerichtete Gewalt nur in solchen das Geschlechterverhältnis betreffenden Zusammenhängen eine Rolle spielen. In der nachfolgenden Darstellung einiger Theorien familialer Gewalt wird somit die Erklärung von Gewalt zwischen (Ehe-)Partnern den roten Faden bilden. Grundsätzlich lassen sich drei Erklärungsebenen in den Theorien unterscheiden:
  1. intraindividuelle Theorien: Personale Eigenschaften des individuellen Akteurs gelten als Determinanten von Gewalt und Mißhandlung. Ein Beispiel ist der Psychopathologische Ansatz, der Gewalt durch als pathologisch geltende „innerliche Abweichungen, Abnormalitäten oder defekte Charakteristika eines Individuums (z.B. inadäquate Selbstkontrolle, Sadismus, Geisteskrankheit, psychopathische Persönlichkeit) erklärt.
  2. sozialpsychologische Theorien: Gewalt in der Familie wird durch auf die Familie einwirkende externe Umgebungsfaktoren erklärt. Die Ursachen familialer Gewalt werden in den Beziehungen des Individuums mit anderen Individuen, Gruppen oder Organisationen lokalisiert.
  3. soziokulturelle bzw. soziostrukturelle Theorien: Individuelle Gewalt wird in Verbindung mit sozialen Strukturen und kulturellen Normen und Werten gesehen. Obwohl die Ursachen auf der Makro-Ebene angesiedelt sind, wird ihre Wirkung in Prozessen auf individueller bzw. sozialpsychologischer Ebene nachgewiesen. [H→] [→H]
    Die Unterteilung dient vor allem dem Verständnis. Die einzelnen Theorien vereinen häufig verschiedene Ebenen. vgl. dazu Habermehl, S. 86f.
Nachfolgend möchte ich kurz auf vier wesentliche Theoriekomplexe eingehen, welche als Erklärung für Gewalt in der Familie - und speziell im Hinblick auf einen größeren kulturellen Geltungsbereich - von Relevanz sind. Intraindividuelle Theorien wurden in diesem Zusammenhang vernachlässigt, da sie familiale Gewalt als ein gesellschaftliches Phänomen nur unzureichend erklären.

Streß

Nach Farrington besitzt die Familie „strukturelle Charakteristika, die sie für Streß besonders verwundbar machen und damit ein hohes Frustrationspotential schaffen.“ [I→] [→I]
Farrington 1980, zit. nach Habermehl, S. 90
Diese erhöhen die Wahrscheinlichkeit instrumenteller und expressiver Gewaltanwendung. Weitere Faktoren sind (1) die Verfügbarkeit von Ressourcen, (2) die kulturelle Legitimation von Gewalt und (3) das „soziale Lernen“, welche die Wahrscheinlichkeit der Nutzung von Gewalt als Problemlösungsstrategie in Streßsituationen beeinflussen. [J→] [→J]
vgl. Habermehl, S. 90
Elmer geht ebenfalls von einer besonderen Streßanfälligkeit der Familie aus. Er unterscheidet schichtspezifische Streßfaktoren (so z.B. ökonomisch begründete Faktoren wie schlechte Wohnverhältnisse, geringe Bildung in der Unterschicht, statusbedingte Faktoren wie Karrieredruck, Überbeschäftigung in der Mittel- und Oberschicht) von „menschlichen“ Streßfaktoren wie Eheproblemen, Isolation etc., die alle Schichten betreffen können. Gesellschaftlich bedingte Streßfaktoren können in gesellschaftlichen Erwartungen und Normen sowie deren Veränderung begründet sein. [K→] [→K]
vgl. Habermehl S. 90,91

Ressourcen

Goode als ein Hauptvertreter des resourcentheoretischen Ansatzes sieht die Familie als ein „Machtsystem, welches auf einem gewissen Grad an Gewalt bzw. ihrer Androhung beruht“. Gewalt stellt eine von vier Ressourcengruppen dar, die sozialen Systeme zur Machtdurchsetzung dienen [L→] [→L]
dazu zählen 1. die ökonomische Variable, 2. Prestige/ Achtung, 3. Gewalt/ Gewaltandrohung und 4. Sympathie/ Attraktivität/ Freundschaft/ Liebe. Goode 1971, zit. nach Habermehl, S. 96
. Ressourcen sind demnach notwendige soziale Mittel zur Durchsetzung von Zielen von Individuen und sozialen Gruppen und auch im Familiensystemen wesentliche Elemente. In der Familie lernen Kinder, daß Gewalt nützlich sein kann, offene Gewaltanwendung jedoch auch mit hohen Kosten in sozialen Systemen verbunden ist, weshalb die meisten Menschen mit alternativen Ressourcen auf Gewaltanwendung verzichten. „Je größer die Verfügbarkeit über andere Ressourcen ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein Individuum Gewalt anwendet.“ [M→] [→M]
ders. ebenda, S. 96
Ressourcen und damit Durchsetzungsmacht sind jedoch in der Familie wie in der Gesellschaft meist ungleich verteilt, womit auch in diesem Ansatz Verbindungen zwischen struktureller Gewalt und personaler bzw. familialer Gewalt bestehen.
„Soziales Lernen“ von Gewalt
Frühere Erfahrungen mit Gewalt nennen verschiedene Theorien als entscheidende Ursache für Gewaltanwendung in der Familie. Durch Kindheitserfahrungen mit Gewalt werden Individuen in der Verwendung von Gewalt eingeübt. „Wer Gewalt als erfolgreiche Problemlösungsstrategie in der Herkunftsfamilie ’erlernt’ hat, überträgt mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt auf ähnliche Streßsituationen in der Zukunft“ [N→] [→N]
Farrington 1980; Zuppinger 1983; Pizzey 1978, vgl. Habermehl S. 107
.

Soziostrukturelle/ systemtheoretische Faktoren

Straus betont bei Frauenmißhandlung den Einfluß kultureller Normen, die intrafamiliale Gewalt legitimieren, und der sexistischen Organisation von Gesellschaft und Familie. Er beschreibt unterschiedliche Elemente der „männerdominante Gesellschafts- und Familienstruktur, die einen hohen Grad ehelicher Gewalt erzeugt und aufrechterhält: Verteidigung der männlichen Autorität; Zwang zur Maskulinität; ökonomische Zwänge und Diskriminierungen; Dominanz der Ehefrauenrolle für Frauen...“ [O→] [→O]
Straus 1978, zit. nach Habermehl S. 99
Gil sieht die Ursache familialer Gewalt in der strukturellen Gewalt kapitalistischer Gesellschafts- und Produktionsprozesse begründet. Die ungleiche Verteilung von Macht, Besitz, Arbeit u.a. den gesellschaftlichen Status bestimmenden Faktoren führt zu Ausschlußprozessen und bei vom Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Arbeit Unterprivilegierten bzw. Ausgeschlossenen zu Unsicherheit, Deprivation und Frustration. „Da die Familie nicht nur die Funktion der biologischen und sozialen Reproduktion erfüllt, sondern auch die der Wiederherstellung emotionaler Stabilität, neigen Individuen dazu, ihre „draußen“ erlebten Gefühle wie Verletzung, Frustration, Zorn und reaktive Gewalt in der Familie abzureagieren. So führt die strukurelle Gewalt letztlich zu personeller Gewalt in der Familie. [P→] [→P]
Gil 1977, zit. nach Habermehl S. 103
Hauptursachen für Streß und Frustration sind nach Gil „Armut und ihre Korrelate“.
Dobash & Dobash sehen Gewalt gegen Frauen als „Ausdruck patriarchalischer Herrschaft“ [Q→] [→Q]
Dobash & Dobash 1980, zit. nach Habermehl, S. 103
. Im historischen Prozess wurde die strukturelle Unterordnung der Frau unter den Mann, ihre Unterwerfung unter männliche Autorität und Kontrolle in einer patriarchalischen sozialen Ordnung und Familienstruktur institutionalisiert. Die männliche Autorität wurde rechtlich, politisch und ökonomisch unterstützt, was früher auch die Billigung physischer Gewalt mit einschloß. Gleichwohl dieses Recht heute nicht mehr existiert, können durch ein Weiterbestehen patriarchalischer Strukturen auch Beziehungsnormen erhalten bleiben, die zu Gewalthandlungen gegen Frauen führen. [R→] [→R]
vgl. Habermehl S. 103
Whitehurst erklärt Frauenmißhandlung durch die immer noch vorhandene „Ideologie männlicher Überlegenheit“. Ein Schlüsselbegriff dieses Ansatzes ist Kontrolle: Die durch Gleichstellungstendenzen geschwächte Kontrolle des Mannes über Frau bzw. Familie versucht er durch Gewalt aufrechtzuerhalten. [S→] [→S]
vg. Habermehl, S. 104
Brown sieht männliche Gewalt als Reaktion auf die Forderung nach gleichberechtigten Autoritätsstrukturen. Beeinflußt wird diese (gewaltvolle) Reaktion durch „männliche Geschlechtsrollenerwartungen, die Männer unvorbereitet lassen Beziehungen zu entwickeln, die durch geteilte Macht und gleiche Aufgabenteilung für Mann und Frau gekennzeichnet sind“ [T→] [→T]
Brown 1980, zit. nach Habermehl S. 104
.

5.2 Machismo und patriarchalische Kultur Lateinamerikas in seiner geschichtlichen Entstehung

5.2.1 Geschlechterverhältnis und Familienstrukturen vor, während und nach der Conquista

In den unzähligen Indianerstämmen Lateinamerikas existierten vor der Eroberung durch die Spanier sowohl matriarchale als auch patriarchale Strukturen. Der Ursprung matriarchaler Elemente in indigenen Gesellschaften liegt noch in der Jäger- und Sammler-Periode. Im Zuge der mit dem Ackerbau beginnenden zunehmenden Seßhaftigkeit, dem damit verbundenen Übergang von kleinen Gemeinschaften zu größeren Stammesverbänden und der Herausbildung differenzierterer, hierarchischer Organisationsstrukturen innerhalb der Stämme vollzog sich auch ein Wandel von matriarchalen Strukturen hin zu patriarchalen Strukturen. Es bildeten sich feste politische Instanzen, die im allgemeinen von Männern kontrolliert wurden. Der sich vollziehende bzw. schon vollzogene Wandel indigener Stämme hin zu patriarchalen Gesellschaftssystemen wurde durch die Eroberung durch die Spanier noch beschleunigt. [U→] [→U]
vgl. dazu Potthast, S. 7ff
Diese führten in den meisten Regionen einen rücksichtslosen und blutigen Eroberungskrieg gegen die indigene Bevölkerung, Versklavung und Ausrottung ganzer Stämme waren ebenso wie die Vergewaltigung von Indianerinnen Teil dieses Feldzugs. Neben den zur Versorgung mit Nahrung und Befriedigung sexueller Bedürfnisse dienenden Sklavinnen erhielten die Spanier in manchen Regionen auch indianische Frauen als Geschenk und Unterpfand für politische Bündnisse. Die sich so vollziehende ethnische Vermischung von Spaniern und Indianern fand fast immer außerhalb der dafür vorgesehenen Institution, der christlichen Ehe, statt. Aufgrund der Illegitimität der Beziehungen besaßen die daraus hervorgehenden Kinder, die Mestizen, einen schwierigen Status. Sie waren zwar Nachkommen der Spanier, konnten aber, da sie aus nicht-ehelichen Beziehungen mit Indianerinnen stammten, weder den Status eines Weißen noch den eines ehelichen Kindes erlangen. Genausowenig gehörten sie mehr zur ethnischen Gemeinschaft ihrer Mütter. Hierin begründete sich u.a. die widersprüchliche Identität der Mestizen. [V→] [→V]
vgl. Rünzler, S. 50ff.
Die mestizische Bevölkerung Nicaraguas, die in der kolonialen Epoche entstand und heute in der pazifischen Region vorherrschend ist, ist Erbin der religiösen Werte und der Sprache der Eroberer und einiger rudimenärer Elemente der indianischen Kulturen, dies vor allem im Hinblick auf deren materielle Kultur (z.B. der Landwirtschaft und spezifische Tätigkeiten von Frauen). Die Anerkennung der Überlegenheit der Eroberer und die entsprechende Verachtung und Ablehnung des Indianischen sind wesentliche Merkmale der mestizischen Identität und Teil des kolonialen Erbes. [W→] [→W]
vgl. Palma, Milagros, S. 13
Bezeichnenderweise werden die Haß- und Verachtungsgefühle, welche die Spanier den Indianern gegenüber empfanden, heute von der mehrheitlich mestizischen Bevölkerung auch gegen sich selbst gerichtet. Über die „Internalisierung der Eroberung“ als symbolische Identität der „Mestizaje“ eines ganzen Kontinents wurde bereits viel geschrieben, u.a. von großen lateinamerikanischen Schriftstellern wie Octavio Paz. So gesehen verkörpert der aus dem europäischen Mittelmeerraum importierte spanische Machismo für die männliche mestizische Bevölkerung eine willkommene Möglichkeit, die durch die Eroberung und Mestizisierung (heute würde man es wohl „ethnische Säuberung“nennen) erlittene Demütigung mit Gefühlen männlicher Überlegenheit zu kompensieren [X→] [→X]
Das Gefühl der Vergewaltigung einer ganzen Rasse durch die Spanier kommt besonders in dem mexikanischen Ausruf: „Viva Mexico, hijos de la chingada“ (Es lebe Mexico, Kinder einer Vergewaltigten“ zum Ausdruck. Rünzler, S. 59 ff.
. Eine weitere Deutung thematisiert die Projektion von Geschlechtern auf Rassen: „Die Conquista schuf die psychologischen Voraussetzungen dafür, daß indianisch mit „Weiblichkeit“ assoziiert wurde“ und der Machismo sei der Versuch, sich von dieser negativ belegten Weiblichkeit zu distanzieren. [Y→] [→Y]
ebenda, S. 60
Illegitimität und Matrilokalität sind nach Barbara Potthast zwei zentrale Elemente des sogenannten „mestizischen Familienmodells“. Sie weist nach, daß „alleinstehende Frauen mit nicht-ehelichen Kindern und instabile Familienstrukturen kein Produkt der modernen Elendsviertel der lateinamerikanischen Metropolen und kein Phänomen dieses Jahrhunderts sind, sondern schon seit längerem die lateinamerikanischen Gesellschaften prägen“ [Z→] [→Z]
Potthast, Barbara: Die Entstehung des „mestizischen Familienmodells“. in Potthast-Jutkeit (Hrsg.): Familienstrukturen in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften, Münster, 1997, S. 7,8
. Die Wurzeln dieser Strukturen reichen bis in die Kolonialzeit zurück, wo sie sich hauptsächlich in den Städten entwickelten. So wurden die von den spanischen Eroberern mit Indianerinnen gezeugten Kinder nur in Ausnahmefällen in den den väterlichen Haushalt integriert, sondern lebten - notgedrungen - mit der Mutter zusammen, d.h. matrilokal. Barbara Potthast zeigt am Beispiel Paraguays den Zusammenhang zwischen ethnischer Vermischung (Mestizisierung) und Familienstrukturen auf. Länder mit hoher Mestizisierungsrate wie Paraguay (95%) oder Nicaragua (70%) haben auch signifikant viele illegitime (nicht-eheliche) Geburten [A→] [→A]
Um 1950 wies Paraguay 43,1% illegitime Geburten auf, zentralamerikanische Staaten wie Nicaragua sogar zwischen 60% und 70%. vgl. ebenda S. 9
. Die Matrizentrierten Familien, die sich in den kolonialen Städten entwickelten, sind jedoch von indigenen matrizentrierten Familien zu unterscheiden, da sie innerhalb eines patriarchalen Systems existieren - und ihnen daher die soziale Funktion, soziales Prestige und Autorität fehlen. Dieser neue Typus von Matrilokalität ist eindeutig durch die koloniale Herrschaft bedingt und eine Folge der sozio-ökonomischen Strukturen dieses Systems, insbesondere der Bedingungen der ethnischen Vermischung, die das alte autochthone System aufbrachen und das indigene Familien- und Gesellschaftsmodell völlig zerstörten. Die christlich-patriarchalen Vorstellungen wurden zum neuen Ideal, entsprachen aber nicht den Lebensbedingungen der unteren Schichten der kolonialen Gesellschaft. Illegitimität und Matrizentralität können somit als „eine Folge von und ein Ausdruck des Auseinanderbrechens der erweiterten Familienstrukturen“ bezeichnet werden [B→] [→B]
ebenda, S. 26
.

5.2.2 Machismo

Für das Verständnis des Sozial- und Geschlechterverhältnisses in Lateinamerika ist der Machismo ein entscheidendes Phänomen, welches an dieser Stelle näher beleuchtet werden soll. Obwohl Machismo zunächst als eine „Ideologie der Geschlechterbeziehungen“ bezeichnet werden kann, reicht seine Bedeutung aber noch weit über die Geschlechterbeziehungen hinaus. [C→] [→C]
Nadig, Maya: Die verborgene Kultur der Frau. Frankfurt a.M. 1992, S. 125 ff.
Es ist ein Komplex von Verhaltensnormen, Idealbildern und Definitionen bezüglich der Geschlechter, welcher über eine Ideologie der männlichen Dominanz hinausgehende Wesenszüge zeigt. Rünzler beschreibt sehr ausführlich die spezifischen Charakteristika des Machismo, die im folgenden Teil kurz zusammengefaßt werden sollen:
Eines der wesentlichen Charakteristika des Machismo ist die Betonung der Aggressivität und Promiskuität des männlichen Sexualverhaltens, verbunden mit der Asoziation von Männlichkeit mit Zeugungsfähigkeit. Das Recht der Männer, sich ihre Männlichkeit durch „Eroberung“ von Frauen zu beweisen, trägt ein destabilisierendes Element in die Gesellschaft und grenzt den Machismo von anderen Formen männlich patriarchalischer Herrschaft (z.B. dem Islam) ab. Sexualität und alle damit verbundenen Verhaltensformen werden im Machismo mit Macht in Verbindung gebracht. Die von der Frau verlangte Passivität und Unterordnung wird notfalls mittels sexueller Aggression bzw. Repression erzwungen. Die gleichzeitige Tabuisierung sexueller Themen in Ehe, Familie und Kindererziehung steht dabei im Gegensatz zu dem unter Männern bestehenden Informations- und Erlebniszwang bezüglich sexueller Abenteuer, deren Verbalisierung dem einzelnen Bestätigung, Aufmerksamkeit und Nähegefühl verschafft. Trotz der untergeordneten Rolle der Frau kann man im Machismo nicht generell von einer Abwertung der Frau sprechen. Es besteht vielmehr eine starke Polarisierung des Frauenbildes, deren Pole das (bedrohliche) Bild der „Hure“ und das (verherrlichte) Bild der „Heiligen“ bzw. „Mutter“ darstellen. Dagegen besitzt der vielzitierte Virginitätskult in der heutigen lateinamerikanischen Kultur nur noch marginale Bedeutung. Wichtig allerdings ist nach wie vor der Zusammenhang zwischen der Ehre des Mannes und der Ehre der Familie, da erstere in direktem Zusammenhang mit der Treue der Ehefrau steht [D→] [→D]
Hier wird die paradoxe Situation des Mannes deutlich: „Seine Ehre und Männlichkeit wird ebenso an der Keuschheit der weiblichen Familienmitglieder gemessen, wie auch an der mit ihm vollzogenen Untreue aller anderen Frauen.“Rünzler, S. 119
. Männlichkeit äußert sich ebenfalls in der Betonung der Unabhängigkeit des Mannes von der Frau und der häuslichen Sphäre, die neben der Nichtzuständigkeit für alles Häusliche und dem unabhängigen Kommen und Gehen auch in der Mißachtung der Ansprüche der Frau, dem Ignorieren ihrer Bedürfnisse zum Ausdruck kommen kann. Im Zusammenhang damit steht ein geringes Verantwortungsbewußtsein gegenüber Familie, Nachkommen bzw. sozial Schwächeren, welches in Verbindung mit Alkoholkonsum und dem sozialen Druck, Männlichkeit durch Trinkfestigkeit und materielle Ausgaben zu beweisen, zu existenz- und lebensbedrohlichen Belastungen der Familie führen kann [E→] [→E]
Zum Zusammenhang von Machismo und Alkoholismus: „Wenn man den Kontrast zwischen dem Machismo eines Alkoholikers und der Realität seiner Beziehung zu Frauen betrachtet, dann wird klar, daß er nur die Fassade für seine Schwäche ist... In Mexiko wütet des Kampf zwischen den Geschlechtern mit aller Kraft, mit dem Ergebnis, daß männliches Ansehen und Selbstbewußtsein an „Machismo“ und Alkohol scheitern und von diesen kompensiert werden.“ MacCoby, zit. nach Rünzler, S. 127
. Ein weiteres typisches Charakteristikum ist die individualistische Komponente des Machismo, seine Indifferenz gegenüber kollektivistischen Interessen, die sich in männlichen Verhaltensweisen wie Zurückgezogenheit, Verschlossenheit und Selbstkontrolle niederschlägt. Gleichzeitig ist Machismo ein Kult der Virilität, in dem Agressivität, Gewalttätigkeit und Demonstration von Mut verhaltensbestimmende Elemente sind. Auch im Sprachgebrauch sowie in der Betonung des männlichen Körpers wird Männlichkeit bzw. männliche Überlegenheit alltäglich neu manifestiert. Die Einteilung in „überlegen“ und „unterlegen“ hat zur Folge, daß Machtstreben und Machterhalt einen zentralen Wert verkörpern, der nur durch Kompromißlosigkeit erreicht werden kann. Dies führt auf personaler Ebene zu einer Verarmung zwischenmenschlicher Beziehungen, in sozialen und politischen Zusammenhängen kann es eine Ursache für Konfliktvermeidung, Korruption und Demokratieunfähigkeit sein. [F→] [→F]
vgl. dazu Rünzler, S. 113-136
Ohne auf die vielfältigen psychologischen, psychoanalytischen, soziologischen und ethnologischen Theorien zum Machismo einzugehen [G→] [→G]
nachzulesen u.a. bei Nadig
, möchte ich kurz auf Verbreitung und Bedeutung des Machismo für beide Geschlechter eingehen.
Machismo wird in einigen Ansätzen als ein der „Kultur der Armut“zugehöriges Rollenverhalten bezeichnet. [H→] [→H]
vgl. Nadig, S. 133
Dies ignoriert jedoch, daß der Machismo ein schicht- und klassenübergreifendes Phänomen ist und soziale Schichten lediglich unterschiedliche Ausdrucksformen desselben entwickelt haben. [I→] [→I]
vgl. Rünzler, S. 112; Nadig, S. 134
Aus feministischer Perspektive wird der Machismo oft ausschließlich als repressives Stereotyp von Männlichkeit gesehen, unter dem vor allem Frauen leiden. [J→] [→J]
vgl. Voß-Goldstein, S. 95: „Wie das unterirdische ud weitverzweigte Wurzelgeflecht eines Pilzes wird er witgehend nicht bewußt wahrgenommen, ist aber überall präsent und bringt seine unheilvollen Auswüchse zutage. Es gilt eben nicht als menschenfeindlich und menschenunwürdig, wenn Frauen ausschließlich als Objekte männlicher Macht und Besitzwünsche gesehen werden, wenn sich ihre „Funktion“ darauf beschränkt, männliche Bedürfnisse zu befriedigen; es gilt vielmehr als so „normal“, daß es vielen Männern und Frauen gar nicht mehr auffällt oder gar in den Sinn kommt, daß diese Praxis geändert werden kann und muß.“
Andere Ansätze betonen, daß der Machismo gerade auch für Männer einen enormen sozialen Druck zu rollenkonformen Verhalten mit enormen körperlichen, psychischen und sozialen Folgen produziert. Beide Sichtweisen werden der Realität nur bedingt gerecht, da sie die Konstanz dieses Phänomens nicht erklären können. Neuere Untersuchungen verdeutlichen demgegenüber die regulierende Funktion des Machismo für das Geschlechterverhältnis [K→] [→K]
Weiterführend wird dem Machismo eine über die Geschlechterfrage hinausreichende gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt. vgl dazu Nadig, S. 139ff
: „Machismo ist eine Vorstellung von Männlichkeit, die Grenzen setzt; Grenzen zwischen den ’männlichen’ Aspekten der Welt und den ’weiblichen’. Als solche verhilft sie durchaus auch beiden Geschlechtern zu ’gesicherten’ Freiräumen, zur Abgrenzung gegenüber als bedrohlich wahrgenommenen Einflüssen und zu Identität, Selbstachtung und Schutz.“ [L→] [→L]
Rünzler, S. 165

5.3 Familiale Gewalt und ihre Akzeptanz in Nicaragua: Bestandsaufnahme und Erklärungsversuche

5.3.1 Gewalt in der Familie und der Paarbeziehung

Leider existiert zu der Thematik intrafamiliärer Gewalt in Nicaragua kaum Literatur. Gleichwohl fast alle größeren Frauenorganisationen Erhebungen bzw. Befragungen von Frauen u.a. auch zu Gewalterfahrungen in der Familie durchführen, sind nur die wenigsten davon veröffentlicht worden bzw. auch international zugänglich. Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesens der Insel Ometepe gingen 2004 davon aus, daß wahrscheinlich jede nicaraguanische Frau mindestend einmal in ihrem Leben von physischer, psychischer oder sexueller Gewalt betroffen ist.
Einige Beiträge meinen, bezüglich familialer Gewalt Ähnlichkeiten mit der Situation in Deutschland feststellen zu können, was z.B. Schichtzugehörigkeit, Dauer und Alkohol als Ursache von Gewalt betrifft:
„Das Frauenrechtshilfebüro hat eine Studie über Frauenmißhandlung erarbeitet, die ähnliche Ergebnisse aufweist wie in der Bundesrepublik Deutschland, z.B.:
Leider läßt sich das reale Ausmaß familialer Gewalt in Nicaragua kaum feststellen, da die Dunkelziffer derjenigen Frauen, die die Gewalttätigkeiten von Seiten des Ehemannes oder anderer männlicher Familienmitglieder stillschweigend erdulden und Folgen von Mißhandlung verleugnen, nach wie vor sehr hoch ist. Es ist jedoch von einer weit größeren Verbreitung gerade physischer und sexueller familialer Gewalt auszugehen als in Europa.

5.3.2 Ursachen für Gewalt

Gehen wir von den eingangs angesprochenen Theorien zu Gewalt in der Familie aus, so kommen hauptsächlich zwei große Ursachenkomplexe in Frage, mit denen sowohl die weite Verbreitung familialer Gewalt als auch ihre hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erklärt werden können. Dies sind zum einen die prekären Lebensverhältnisse, in denen ein Großteil der nicaraguanischen Bevölkerung zu überleben versucht und zum anderen die hohe Verbindlichkeit der mit dem Machismo in Zusammenhang stehenden sozialen Normen und Werte für Partnerschaft, Familie und Gesellschaft. Im Folgenden möchte ich versuchen, meine These unter Bezugnahme auf die eingangs erwähnten Erklärungsansätze zu begründen.

Prekäre Lebensverhältnisse als Ursache von familialer Gewalt

Wie in Kap. 1 ausführlich dargestellt, befindet sich Nicaragua in einer sozialen und ökonomischen Krise, deren Ende nicht abzusehen ist. Diese hat enorme Auswirkungen im täglichen Leben der Bevölkerungsmehrheit: Anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, unsichere, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, das Ausgeschlossensein von jeglichen sozialen Sicherungssystemen (Rente, Krankenversicherung etc.), ein kostenpflichtiges Schul- und Gesundheitssystem, die Abhängigkeit von Ernteerträgen usw. stellen ein permanentes Armutsrisiko dar. Armutsverhältnisse haben die Eigenart, sich selbst zu reproduzieren. Niedriges Einkommen steht in einem Zusammenhang mit niedriger Bildung, schlechtem Gesundheitszustand, hoher Kinderzahl, schlechten und beengten Wohnverhältnissen etc.. Dieser Zusammenhang wird in Nicaragua durch die Kostenpflichtigkeit von Schule und Gesundheitsversorgung bei gleichzeitig fehlenden sozialen Sicherungen noch verschärft. Die durch ebendiese soziostrukturellen Bedingungen entstehenden Lebenslagen von Familien sind bestimmt durch Mangel, Existenznot, Angst, Unsicherheit, Abhängigkeit, Unterordnung, Frustration, Streß - und Gewalt. Zudem haben die Ereignisse der letzten Jahrzehnte - die Revolution, die Aufbruchsstimmung verbunden mit Hoffnung und Engagement, die zermürbenden Kriege mit vielen Opfern unter der Bevölkerung und bleibenden seelischen Verletzungen, der Hurrican Mitch und die wirtschaftliche Liberalisierung haben in vielen Menschen in Nicaragua ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Resignation hinterlassen. Die meisten haben den Glauben an ihr Land, an eine Besserung ihrer Situation verloren und fühlen sich als Almosenempfänger ausländischer Hilfe. Die Familie als Rückzug- und Reproduktionsort ist neben den vielfältigen existentiellen Problemen auch mit diesen Ohnmachtsgefühlen konfrontiert. Sie werden in die Partnerschaft und die Beziehung zu Kindern und anderen Familienmitgliedern hineingetragen. Als Ventil bleibt bei fehlenden Alternativen dann oft nur die Gewalt gegen Schwächere, die Frau oder Partnerin bzw. die Kinder. Nicht selten dient Gewalt auch einer zur Existenzsicherung der Familie zwingend notwendigen Disziplinierung, die in armen Bevölkerungsschichten kaum auf anderem Wege (Prestige/ Ehre, materielle Güter) erreicht werden kann (Wie soll eine in einem Barrio lebende alleinerziehende Mutter von 10 Kindern diese dazu bringen, zu arbeiten und das verdiente Geld nach Hause zu bringen?). Das sich Gewalt zu einem stabilen Element in der Partnerschaft bzw. Familie entwickeln kann, hat in Nicaragua häufig mit Abhängigkeit zu tun. Die (Groß-)Familie stellt aufgrund fehlender staatlicher Systeme den einzigen Garanten sozialer Absicherung dar, was zu enormer ökonomischer und emotionaler Abhängigkeit vor allem junger und nichtverdienender Mitglieder (Frauen und Kindern) führt. Gleichwohl dies Erklärungen für familiale Gewalt und ihre Duldung durch die Betroffenen sein können (vgl. zu Streß Farrington, Elmer, zu Ressourcen Goode, zu Gesellschaftsstrukturen/ Armut Gil), lassen sich daraus nur bedingt Schlüsse zu der gesellschaftlichen Verbreitung und vor allem Akzeptanz von familialer Gewalt ziehen. Hierzu ist die Frage der kulturellen Legitimierung von entscheidender Bedeutung.

Machismo als Ursache von familialer Gewalt

Machismo als ein „Komplex von Verhaltensnormen, Idealbildern und Definitionen bezüglich der Geschlechter“ spielt eine entscheidende Rolle für die Legitimierung von Gewalt zwischen Mann und Frau und in der Familie. Indem die ihm zugrunde liegende Vorstellung die der Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau ist und es diese im Alltag immer neu darzustellen gilt, wird dem Mann das Recht eingeräumt, diese „naturgemäße“ Überlegenheit aufrechtzuerhalten. Zu welchen Mitteln er dabei greift, ist davon abhängig, welche Ressourcen ihm zur Verfügung stehen und wie er sie zu nutzen weiß. Kann ein Mann die Unterordnung einer Frau durch sein Prestige, seine finanziellen Mittel bzw. seinen Besitz (und sei es die Aussicht auf ein sorgloses, geregeltes Leben), durch Sympathie, Attraktivität oder Liebe(-sschwüre) erreichen, so muß er nicht auf Gewalt zurückgreifen. Bleiben ihm jedoch all diese anderen Wege und Mittel verschlossen, ist die Gewalt als letztes Mittel doch immernoch legitim, da es der Herstellung oder Wiederherstellung einer „natürlichen Ordnung“ dient. Diese „natürliche Ordnung“ist aufgrund ihrer Verankerung in der lateinamerikanischen Kultur, in der katholischen Religion und Kirche und in einer männerdominierten Gesellschaft ein relativ stabiles Bezugssystem im sozialen Miteinander. Sie wird auch keineswegs nur von Männern getragen und befürwortet. Spricht man mit nicaraguanischen Frauen, so wird schnell klar, daß auch sie die Sichtweise des Machismo verinnerlicht haben. Junge Mädchen sehnen sich nach dem „starken Mann“, lassen sich durch Liebesschwüre „einwickeln“ und sehen ein Kind als den größten Liebesbeweis, den sie einem Mann bringen können. Die Gleichsetzung von Frausein und Muttersein und die tatsächliche (sehr frühe) Mutterschaft (mit hoher durchschnittlicher Kinderzahl pro Frau) bedingen und verstärken sich gegenseitig. Als Mütter sind Frauen verantwortlich für die Kindererziehung und tragen darüber selbst zur Reproduktion des machistischen Geschlechtsrollenstereotyps bei, angefangen bei geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Erziehungsmethoden und -zielen bis hin zu unterschiedlichen Bildungschancen von Jungen und Mädchen. Gewalt spielt in instrumenteller Form auch als Erziehungs- und Züchtigungsmittel eine Rolle, das als fester Bestandteil autoritärer Erziehung breite Akzeptanz und Anwendung findet. Gewalt als Mittel der Erziehung wird nicht nur bei Kindern, sondern häufig auch zur „Züchtigung“ der eigenen Frau benutzt wird, um schlechte Haushaltsführung, Untreue oder die Mißhandlung gemeinsamer Kinder durch die Frau zu bestrafen bzw. Gehorsam und Unterordnung zu erzwingen. Als letztes Mittel steht dem Mann immer auch das Verlassen der Frau bzw. Familie offen, die dann ohne Einkommen und Unterhaltszahlungen auskommen muß. Eine häufige Ursache und Begleiterscheinung von Gewalt in der Familie stellt der Alkohol dar.


Bibliography

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